18.12.2023
„Mehr Praxis in die Schulen“
Praxislerntage, Ausbildungsmessen, Checklisten für Schüler-Praktika: Mit zahlreichen Angeboten fördert das Netzwerk „SCHULEWIRTSCHAFT“ die berufliche Orientierung von Jugendlichen. Im Interview gibt die Vorsitzende Angela Papenburg konkrete Tipps – und beantwortet die Frage, ob der Schulabschluss allein für ein erfolgreiches Berufsleben entscheidend ist.
Frau Papenburg, das Netzwerk „SCHULEWIRTSCHAFT“ hat in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag gefeiert. An einen „Ruhestand“ Ihrer Initiative ist aber sicher nicht zu denken. Warum ist die Kooperation von Schule und Wirtschaft gerade heute besonders wichtig?
Angela Papenburg: Zum einen ist aktuell natürlich der Fachkräftemangel ein wichtiges Thema, gerade für die Wirtschaft. Viele Unternehmen haben Probleme, qualifizierten Nachwuchs zu bekommen. Zum anderen steht das Bildungssystem vor massiven Herausforderungen. Entscheidend ist aus meiner Sicht, mehr Praxis in die Schulen zu bekommen, damit die jungen Menschen besser auf das Arbeitsleben vorbereitet sind. Es gibt für unser Netzwerk also viel zu tun.
Im Mittelpunkt Ihrer Arbeit steht die Berufliche Orientierung. Wie gehen Sie da konkret vor?
Papenburg: Unsere Bundesinitiative unterstützt die Arbeit der Netzwerke in den Ländern und auf regionaler Ebene. Wir entwickeln beispielsweise Checklisten für Schülerpraktika in den Betrieben, aber auch für Praktika von Lehrkräften in den Unternehmen. Zudem bieten wir Schulen und Wirtschaft an, sie bei der wichtigen Elternarbeit zu unterstützen. Die Bertelsmann-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit „SCHULEWIRTSCHAFT“- Deutschland den Leitfaden für Berufliche Orientierung weiterentwickelt. Und in Rahmen unserer engen Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit steht aktuell die Situation von jungen Menschen ohne Schul- beziehungsweise Berufsabschluss ganz oben auf unserer Agenda.
Alle unsere Erfahrungen und Vorschläge fließen in die Berufliche Orientierung vor Ort ein. Die regionalen Netzwerke entscheiden sich in Abstimmung auf Augenhöhe für individuelle bedarfsgerechte Angebote. Ein konkretes Beispiel ist eine Messe oder ein Tag der Offenen Tür an einer Schule, bei dem sich Unternehmen präsentieren und die Jugendlichen durch Mitmach-Experimente ihre Talente ausprobieren können. Auch die Eltern werden eingebunden. Im besten Fall kommt es dabei zu einem konkreten Kontakt, einem „Matching“, zwischen einem Ausbildungsbetrieb und einem interessierten Jugendlichen.
In Halle an der Saale haben wir ein Angebot entwickelt, bei dem Lehrerinnen und Lehrer in die Betriebe gehen, um die Ausbilderinnen und Ausbilder und die Arbeitsabläufe kennenzulernen. Dadurch können die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler im Anschluss besonders gut beraten. Ein weiteres Format ist das jährliche Schulleiter-Forum, bei dem sich die Schulleitungen mit Ausbildungsbetrieben und außerschulischen Partnern ihrer Region austauschen.
Welche Rolle spielt die Berufliche Orientierung an den Gymnasien, die ja vor allem auf das Abitur und ein mögliches Studium vorbereiten?
Papenburg: Unsere Botschaft ist: Es ist nicht allein der höchste Schulabschluss für ein erfolgreiches Berufsleben entscheidend. Wichtig ist, den Weg zu gehen, der zu einem individuell am besten passt. So sollten Schülerinnen und Schüler in den Gymnasien genau überlegen, ob sie auf jeden Fall das Abitur machen möchten. Oder ob für sie mit dem Abschluss der 10. Klasse ein anderer Weg vielleicht erfolgsversprechender ist, beispielsweise eine duale Berufsausbildung.
Es gibt viele erfolgreiche junge Leute, die erst eine Ausbildung absolviert und danach studiert haben. Einen solchen Lebenslauf hat in unserem Betrieb beispielsweise die stellvertretende Personalleiterin, eine junge Frau unter 35 Jahren. Sie hat sich nach ihrem Realschulabschluss zunächst für eine Ausbildung als Industriekauffrau entschieden, und hat mit dieser Praxis-Erfahrung erfolgreich berufsbegleitend das Bachelor- und Masterstudium absolviert. Ihre persönliche Vita als Mitarbeiterin bei uns im Unternehmen und als Mutter von drei Kindern ist auch bei Elternabenden in Schulen ein gutes Beispiel dafür, wie vielfältig erfolgreiche Ausbildungswege verlaufen können und dass auch ohne Abitur und mit Berufspraxis in Deutschland studiert werden kann.
Inwieweit passen denn immer die Vorstellungen der Jugendlichen und die Erwartungen der Unternehmen zusammen?
Papenburg: Wir merken schon, dass Erwartungen und Anforderungen häufig auseinanderliegen. Umso wichtiger ist ja die verstärkte Berufliche Orientierung! Nehmen Sie das Beispiel der Digitalisierung. Die jungen Leute können sich in der Regel zwar gut im Internet zurechtfinden. Durch Social Media bekommen sie jedoch oft vermittelt, dass sich mit wenig Anstrengung viel erreichen lässt. So werden „Youtuber“ gefeiert, die scheinbar recht simpel ziemlich gut Geld verdienen. Und diese Vorstellungen prallen dann mit den Erwartungen von Betrieben zusammen, für die es wichtig ist, dass sich ihre Auszubildenden auch mit sperrigen Themen wie Cybersicherheit oder Datenschutz intensiv beschäftigen. Da reicht es also lange nicht, zum Beispiel bei Social Media Posts erstellen zu können. Sondern es geht schon um fundierte Kenntnisse zu Details von digitalen Prozessen.
Ausdrücklich hat das Netzwerk „SCHULEWIRTSCHAFT“ auch die MINT-Fächer im Blick, also Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Dieser Bereich wird sowohl für Industrie- als auch für Handwerksbetriebe immer wichtiger. Daher ist es entscheidend, dass noch mehr junge Leute ein generelles Technikinteresse entwickeln oder sich schon frühzeitig selber handwerkliche Fähigkeiten aneignen. Gerade vor dem Hintergrund, dass an vielen Schulen wenig Technikunterricht oder Werken stattfindet.
Welche Rolle spielen denn die Eltern bei der Berufsfindung?
Papenburg: Natürlich spielen die Eltern eine bedeutende Rolle bei der Berufswahl ihrer Kinder. Aber mittlerweile sicher weniger als klassische Berater, die ihren Kindern genau erklären, für welchen Ausbildungsberuf man zum Beispiel welche konkreten Qualifikationen und Interessen benötigt. Bei diesen Fragen sind viele Eltern heutzutage aufgrund der Vielfalt der Berufe und der sich schnell verändernden Berufsbilder oft nicht mehr auf dem aktuellen Stand. Hier informieren sich die Jugendlichen dann häufig selbst im Internet oder über Social Media.
Allerdings beeinflusst die jungen Leute, was ihre Eltern beruflich vorleben, weil sie das von klein auf mitbekommen. Wenn die Mutter Ärztin ist, hat die Tochter mitunter schon den Wunsch, ebenfalls Medizinerin zu werden. Eltern prägen vor allem langfristig die berufliche Orientierung der Kinder. Was ich feststelle ist jedoch, dass sich viele Jugendliche recht kurzfristig für einen Beruf entscheiden. Und dabei lassen sie sich auch von ihrer Peer-Group, ihrem Freundeskreis, stark beeinflussen.
Haben Sie einen speziellen Tipp für Jugendliche, was sie besonders für eine erfolgreiche Berufswahl beachten sollten? Und was raten Sie Unternehmen?
Papenburg: Für junge Leute ist es aus meiner Sicht besonders wichtig, Praxiserfahrung zu sammeln! Also frühzeitig ein Praktikum zu machen oder einen Ausbildungsbetrieb schon einmal in anderer Form von innen zu erleben. Dazu müssen die Schulen entsprechende Freiräume und Möglichkeiten anbieten. Ich denke da zum Beispiel an die sogenannten Praxislerntage. Dabei kommen die Jugendlichen alle zwei Wochen für einen Tag in den Betrieb, um dort Aufgabenstellungen der Schule oder eigene Projekte umzusetzen.
Bei uns im Team Marketing muss beispielsweise ein Flyer zu unseren Ausbildungsberufen erstellt werden. Dabei müssen sich die Praktikantin oder der Praktikant inhaltlich mit den Berufsbildern und zugleich mit Grafiken, Texten, dem Layout und dem Preisvergleich für den Druck beschäftigen. Eine Verbindung zum Schulunterricht ist dann speziell für die Fächer Deutsch, Kunst und Wirtschaft gegeben. Wenn das Projekt, in dem Fall der Flyer, umgesetzt wurde, präsentieren die Jugendlichen das Ergebnis in der ihrer Klasse. Diese Praxislerntage bringen praktische Erfahrung und ein Erfolgserlebnis – beides ist wichtig für den Weg ins Berufsleben.
Deshalb sind die Unternehmen ihrerseits aufgefordert, Qualität bei der Ausbildung und bei Praktika zu bieten. Diese beginnt schon bei der Einsatzplanung eines Praktikums.
Alle, die Schulen, die Betriebe, Akteure der Berufliche Orientierung und MINT-Bildung, aber auch Eltern und die Jugendlichen selbst müssen zum Gelingen beitragen. Tolle Beispiele werden mit dem „SCHULEWIRTSCHAFT“- Preis „Das hat Potenzial“ ausgezeichnet, der durch das Bundeswirtschaftsministerium alljährlich unterstützt wird. Wir als Netzwerk „SCHULEWIRTSCHAFT“ wollen Hilfestellung geben und auf gute Praxis aufmerksam machen. Und übrigens würden wir uns freuen, künftig verstärkt mit der Kultusministerkonferenz zusammenzuarbeiten und unsere Expertise im Hinblick auf die Einbindung außerschulischer Partner anbieten zu können.
BILD: GP Günter Papenburg AG